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Riding the storm ...

Welche Lehren sich aus einem Sommerorkan für die Coronakrise ziehen lassen

Bild: Kai Ortmann/dianakuehn3010@Pixabay

Auch wenn es sich auf den ersten Blick um total unterschiedliche Dinge handelt, so haben ein Nordseesturm und die derzeitige Pandemie eines gemeinsam: Sie sind – auf die ein oder andere Art – Naturereignisse. Und gegen die Natur können wir auf Dauer nicht gewinnen, maximal kurzzeitige Teilerfolge erzielen. Diese verzögern aber eigentlich nur das Unvermeidliche. Warum ignorieren wir diese Tatsache konsequent?

Niemand kann sagen, er wäre nicht vorgewarnt gewesen: Der Kommandeur des 5. Schnellbootgeschwaders (5. SG) im Frühsommer 1994 in Norwegen ebensowenig wie die deutsche und internationale Politik im Januar/Februar 2020. Das 5. SG hatte die Seewetterberichte, die Regierungen die Warnungen der WHO. Und in beiden Fällen fehlte eine entscheidende Information, beziehungsweise diese war so verklausuliert, dass sie keine Beachtung fand. Das war in einem Fall die Verunsicherung der Meterologen bezüglich der erwarteten Zugrichtung eines Schlechtwettersystems im Bereich der äußeren Nordsee. Und im anderen Fall die potenzielle Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus infolge symptomloser Überträger. Die Politik wartete daher zu lange, bis sie in Aktion trat, die Schnellboote dagegen liefen aus. Beide Fälle endeten damit, dass es mehr oder weniger heftig auf die Nase gab. Beginnen wir mit einer Sturmfahrt, die ich nie vergessen werde.

Vorhersage: Es pustet

Norwegens Fjordlandschaft rund um Bergen ist malerisch, erst Recht im Frühling, wenn der Schnee verschwunden ist. Dann stürzen steile, grüne Hänge scheinbar direkt ins Wasser. Die Teilnahme des 5. SG am  NATO-Manöver „Bold Game“ war soeben zu Ende gegangen. Die acht Schnellboote, alle der sogenannten Tiger-Klasse (148) zugehörig, sammelten sich an einem der damals noch in Dienst stehenden kleinen Tanker der Deutschen Marine. Nach meiner Erinnerung entweder „Tegernsee“ oder „Ammersee“. Normalerweise fassten wir am Tender Sprit, in diesem Frühjahr war das die vom 3. SG in Flensburg ausgeliehene „Rhein“. Nur war die bereits etwa 100 Seemeilen weit Richtung Westen zu finden und sollte irgendwo bei Cape Wrath auf uns warten. Wir dieselten auf, wie man so sagt, und zwar „bis zur Halskrause“. Geplant war eine Verlegung einmal quer über die Nordsee zur Nordspitze Schottlands inklusive Durchfahren des Pentland Firth. Nach kurzem Stop längseits der Rhein sollte eine Tour rund um die britische Hauptinsel folgen, Etappenziel war Liverpool. Dort stand ein verlängertes Hafenwochenende mitten in der Innenstadt auf dem Programm. Als „per Handauflegen“ zum Navigationsgast umgepolter Eloka bekam ich, neben der Führungsmannschaft, als einer der wenigen auf „S55 Alk“ den kompletten Wetterbericht Schwarz auf Weiß in die Hände. Igitt, ums mal vorsichtig zu formulieren. In den für uns interessanten Vorhersageregionen war jetzt schon „Rasmus von der Kette gelassen“. Die Fakten: Windstärke sechs, auffrischend sieben, in Böen bereits neun Beaufort. Dazu drei bis vier Meter mittlere Wellenhöhe, Tendenz fünf bis sechs Meter und mehr. Barometer? 993 hPa – fallend! Für uns war das Grenzwetterlage, schließlich waren wir nur 47 Meter lang, knapp 300 Tonnen schwer und hatten keinen Tiefgang, den es zu erwähnen lohnt. An sich vermieden wir es, bei allem was acht und mehr Windstärken hatte, in den freien Seeraum zu laufen. Ich weiß nicht, was unseren Kommandeur, Fregattenkapitän S., zum Auslaufen bewegte, ob falsche Informationen, unzutreffende Annahmen oder Druck von oben. Mangelnde Seemannschaft ist auszuschließen, denn einige Jahre später bekam er die Gorch Fock als Kommandant. Und den Posten kriegen keine schlechten Seeleute. Jedenfalls blieb es beim Auslaufbefehl.

Alle Große Fahrt voraus!

Wir machten uns angesichts der Wetterprognose schnellstmöglich vom Hof. Allen Berechnungen nach hatten wir eine Chance, durch Pentland Firth zu kommen und damit unter Landabdeckung, bevor der Sturm richtig zuschlug. Nette Idee – NICHT! Die Wettergötter warteten perfider Weise, bis wir den Point of no return, also die halbe Strecke, hinter uns hatten. Dann sprang ziemlich unvermittelt der Wind um und aus Stärke neun in in Böen wurden permanente neun bis zehn. Jede Böe wurde gefühlt noch stärker. Was unseren Decksmeister zu einem sorgenvollen Stirnrunzeln veranlasste – hatte ich bei ihm bis dahin noch nie gesehen.

Vom Geschwaderführungsboot kam in dem Moment der Befehl, auf 30 Knoten Fahrt zu gehen. Eigentlich viel zu schnell für die Verhältnisse, zumal wir gegen die See fuhren. Stößt ein Schnellboot dabei mit 30 Knoten in eine Welle hinein, anstatt darüber zu gleiten, müssen die Maschinen sofort in auf Null zurückgenommen werden. Sonst besteht die Gefahr, eine derartige Menge Wasser auf das Vorderdeck zu bekommen, dass das Boot in Höhe der Munitionskammer durchbricht. Also genau hinsehen, nur wie? Denn ab einer gewissen Windgeschwindigkeit reißt die Luft soviel Flugwasser von den Wellen, dass jede Fernsicht aufhört. An dem Punkt waren wir sehr schnell, und als mir die Operationszentrale zwei Decks unter dem Fahrstand kurz vor Mittag die aktuelle Windgeschwindigkeit angab musste ich vor Schreck zweimal nachfragen, bevor ich die Zahl ins Schiffstagebuch eintrug: Knapp 70 Knoten, also volle Zwölf Windstärken – Orkan!

Schnellboote auslaiufend Norwegen. Die Hecksee lässt auf "Arbeitsfahrstufe" schließen, halbe Kraft – also 24 Knoten.
Das 5. Schnellbootgeschwader im Mai 1994, Canning Dock, Liverpool, Außenboot im ersten Päckchen ist der Kranich, dahinter außen im zweiten Päckchen der Pinguin
Blick über den Bug von FGS Alk (P 6155), hier bei etwas ruhigerer Wetterlage vor Südengland aus dem oberen Fahrstand fotografiert. Müsste unweit Falmouth gewesen sein.

Wellentanz vom feinsten

In den Booten ging es unbeschreiblich zu. Versuchen sie mal, rund 6 Stunden auf einem in höchster Stufe laufenden Bull-Riding-Simulator zu stehen – ungefähr so. Querlagen bis 50 Grad waren keine Seltenheit, die wechselten dann auch noch in wenigen Sekunden komplett in die andere Richtung. Sämtliche der beteiligten acht Einheiten hatten einen oder mehrere Verletzte, gottseidank waren darunter aber keine schweren oder gar lebensbedrohlichen Fälle. Dazu kamen erhebliche Beschädigungen. Wir hatten selbst noch Glück und kamen mit einem um 90 Grad umgebogenen Wellenbrecher (immerhin 1,5 Zentimeter starker Schiffbauerstahl), ein paar weggerissenen Relingstützen und einer verschwundenen 20-Mann-Rettungsinsel noch recht glimpflich davon. Dazu sind allerdings noch Decksmeisters zwei gebrochene Rippen zu zählen, eine Bänderdehnung beim Gefechtsrudergänger und ein erschöpfungsbedingter Kreislaufkollaps bei einem der Artilleristen. Der Verlust der Rettungsinsel ging übrigens auf das Konto von Wellenschlag, der das Wasserdruckschloss öffnete. Das soll an sich erst bei 15-20 Metern Wassertiefe aufgehen – damit dürfte alles gesagt sein.

Hey, gefälligst dranbleiben!

Zwischendurch hatte unser Alter, also der Kommandant (grad mal 28 Jahre alt, aber trotzdem der Alte) eine Idee. Er ging versuchsweise eine Fahrtstufe runter, auf 27 Knoten. Das Rollverhalten (also die Querlagen) wurde sofort merklich angenehmer. Auch hämmerten wir nicht mehr so irrsinnig in die Wellen. Wir teilten das Ergebnis dieses „Experiments“ dem Kommandeur mit. Etwa zehn Sekunden herrschte Schweigen in der Leitung. Dann bekamen wir die klare Order „Negative, speed 30“. Ich lernte in dem Moment ein paar neue Seemannsflüche.

Bloß raus aus dem Dreck, bevor wirklich was passiert

Später ging uns die Logik dann auf: Das Wetter würde nicht besser werden, sondern noch schlechter (ja, es gibt Windstärken jenseits der zwölf…), wir waren noch rund 5 Stunden vom Pentland Firth entfernt und steckten in einem Sturm weit jenseits dessen, was die Garantie der Werft vorsieht. Drei Knoten weniger Fahrt machten in der Lage ungefähr eine halbe Stunde mehr aus, in der eines der Boote wirklich in Schwierigkeiten geraten könnte. Und erkauft hätten wir damit lediglich ein kleines bisschen mehr Komfort, ohne einen Gewinn an Sicherheit. Unser Decksmeister, den ich damals fürchtete, obwohl er in Wahrheit sehr viel von mir hielt, formulierte es später so: „Das ist die Natur. Die kannst Du weder austricksen, noch ihr komplett davonlaufen. Aber Du kannst überlegen, ob Du komfortabel länger draußen bleibst – mit der Gefahr, dass doch richtig was schiefgeht – oder ob Du unkomfortabel, mit ein paar Blessuren mehr, aber dafür wenigstens auf der Wasseroberfläche schwimmend und deutlich früher aus dem Wetter rauskommst.“ Der Kommandeur befürchtete offensichtlich, dass die Chancen auf einen heftigen Zwischenfall mit zunehmender Exposition gegenüber den Elementen exponentiell anstiegen.

Was ist wichtiger, das Boot oder der Komfort der Besatzung?

Klingen die letzten Vokabeln bekannt? Irgendwie schon. Denn 2020 war kein Schnellbootgeschwader, sondern eine ganze Welt in einer ähnlichen Situation. Mitten im schönsten Alltag erwischte uns alle ein Sturm, von dem wir hofften er würde in der Ferne vorüberziehen. Umdrehen war nicht, also durch. Aber wie? Zunächst einmal wurde vor allem auf die Gesundheit der Besatzung, vulgo Bevölkerung geachtet. Der Rumpf des Schiffchens Bundesrepublik, also Wirtschaft, Infrastruktur etc., wurde bei dem verlangsamten Tempo aber trotzdem ganz erheblich beansprucht. Im Sommer wurde alles daran gesetzt die, um in der Seemannssprache zu bleiben, gerissenen Spanten und Stringer wieder zu schweißen und Winterfest zu machen. Aber die mit allerlei Flickwerk stabil gehaltene Wirtschaft hat keineswegs die Ausgangsstabilität aus dem Frühjahr. Und doch nimmt die Schiffsführung wieder Fahrt raus, legt mehr Wert auf den Komfort des Personals als auf die Stabilität des Rumpfes. Kann das gut gehen? Riskieren wir nicht eventuell ein fatales Strukturversagen beim nächsten großen Wellental? Müsste nicht die Devise für die Besatzung lauten „Gewöhnt Euch an die Schaukelei, wir halten lieber Dampf im Schiff, damit uns nicht kurz vor der rettenden Landabdeckung die Puste ausgeht!“? Denn eins steht fest: Covid-19 beziehungsweise Corona wird aus dieser Welt nicht verschwinden, weder jetzt, noch Morgen, ob mit Impfstoff oder ohne. Denn die Natur können wir nicht besiegen, nicht damals, nicht heute, nicht in hundert Jahren. Vielleicht sollten wir anfangen, uns an ein Leben mit diesem Virus zu gewöhnen, wie das bei hunderten anderer Viren der Fall war.

Steuern wir alle falsch?

Die Entscheidung zu bremsen oder lieber mit Volldampf zumindest bis zu etwas Lee (Windabdeckung) weiter zu laufen, also bis wenigstens ein teilweise wirksamer Impfstoff da ist, dürfte die schwierigste sein, die ein Politiker in der bundesrepublikanischen Geschichte zu treffen hatte. Derzeit sieht es so aus, als würde die Fahrt aus dem Schiff genommen und dem Komfort der Besatzung Vorrang eingeräumt.

Der richtige Kurs? Möglich. Aber die Zweifel werden stärker.

Fundstück zum Thema



Nicht von mir, aber sehr illustrativ ist dieses Video, zumal es ziemlich exakt die Sichtposition einnimt, die ich damals auch hatte. Steuerbordseite Fahrstand, etwa am Navigationstisch, der Blick geht durch das zweite steuerbordseitige rotierende Klarglasfenster. Der geneigte Leser mag seine Vorstellungskraft bemühen und auf diese Wellenhöhe zwei bis drei Meter draufpacken….

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